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15.07.2021

Klimawandel in Norddeutschland Welche Entwicklung lässt sich bereits in den Beobachtungen nachvollziehen und was zeigen die Szenarien?

Marine Ökosysteme in Nord- und Ostsee

Die Dynamik der Ökosysteme der Nordsee, des Wattenmeeres, des Elbeästuars und an der deutschen Ostseeküste wird durch klimabedingte Faktoren wie Temperatur, Niederschlag oder Meeresströmungen beeinflusst. Durch den Klimawandel sind bereits heute Veränderungen der physikalischen, chemischen und biologischen Faktoren zu beobachten. Die tatsächliche Auswirkung ist aber meistens komplex, weil mehrere dieser natürlichen Faktoren mit menschlichen Aktivitäten wie CO2-Ausstoß, Fischerei, wasserbaulichen Maßnahmen oder Verschmutzung miteinander in Wechselwirkung stehen.

© Michael Fritz

© Michael Fritz

Die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten sind an der Küste am größten und nehmen zum offenen Meer hin ab, während der Einfluss klimaabhängiger Faktoren wie Temperatur oder Meeresströmungen zunimmt. Marine Ökosysteme unterliegen auf lange Sicht nicht nur starken Schwankungen, sondern können sich auch sprunghaft ändern.

Steigende Wassertemperaturen, veränderte Lichtbedingungen und Fischerei haben eine deutliche Auswirkung auf das Ökosystem der Nordsee. Bakterien und freischwebende Algen (Plankton), Muscheln, Krebse (Makrobenthos) und Fische bis hin zu Robben sind alle Bestandteil des marinen Nahrungs­netzes. Jede Veränderung bei einer Art kann Auswirkungen auf die anderen Mitglieder des Nahrungsnetzes haben. Das Plankton (in der Strömung treibende Kleinstlebewesen) entwickelt sich durch bessere Lichtbedingungen und höhere Temperaturen früher im Jahr. Das Makrobenthos (am Meeres­boden lebende Organismen) und das Artenspektrum der Fische in der Nordsee weisen durch die Erwärmung vermehrt südliche, wärmeliebende und seltener kälteliebende Arten auf. Ein Beispiel für das Auftreten von neuen Arten in der Nordsee ist die Trapezkrabbe. Wassertemperaturen von mehr als 5,5 °C im Winter haben ihre Etablierung in der Nordsee begünstigt. In der Nordsee traten abrupte Änderungen vor allem am Ende der 1980er­Jahre auf. Die damals gerade eingewanderte Rippenqualle hat sich scheinbar ohne negative Folgen im Ökosystem etabliert. Die im Vergleich zu Fischen höhere Toleranz vieler Quallen gegenüber Sauerstoffmangel, erhöhter Wassertemperatur und zunehmender Versauerung kann dazu führen, dass sie als Gewinner der globalen Wandlungsprozesse hervortreten. Der Fischbestand der Nordsee wird nach wie vor am stärksten durch die Fischerei bestimmt. Unter dem Einfluss des Klimawandels reagieren Fischbestände empfindlicher auf Fischereidruck.

Neben der Dezimierung des Laichbestandes übt Fischerei durch die Fokussierung auf große Tiere einen Selektionsdruck auf Fischpopulationen aus. So können sich z. B. Fische, die früher und bei kleinerer Größe zur Geschlechtsreife gelangen, bevorzugt fortpflanzen und verändern so den Genpool. Dies kann jedoch negative Auswirkungen auf die Anpassungsfähig­keit des Fischbestandes an Umweltveränderungen haben. Der Klimawandel könnte sich zukünftig auch indirekt auf die Fischbestände der Nordsee auswirken, da durch die Ansiedlung der Offshore­-Windparks als Bestandteil der Energiewende vermehrt künstliche Hartsubstrate in die Nordsee eingebracht werden. So werden u. a. Lebensräume für Arten geschaffen, die sonst nicht in den betreffenden Gebieten vorkommen würden. Da Fischerei in diesen Gebieten weitgehend untersagt ist, kann sich diese Entwicklung zusätzlich verstärken.

In einem wärmeren Wattenmeer können höhere Stoffum­sätze zu einer erhöhten Produktivität führen. Weiter sinkende Nährstofffrachten der Flüsse infolge der Umsetzung von EU­-Umweltgesetzen wirken dem entgegen. So sind infolge der Abnahme der Nährstofffrachten durch Rhein, Maas, Weser, Ems und Elbe Algenblüten und Biomasse im Wattenmeer vor allem im Sommer zurückgegangen. Unklar ist, wie die Klimaände­rung die Abflussmengen und damit auch die Nährstofffrachten künftig ändern wird. Dementsprechend wird die Reaktion des Wattenmeerplanktons auf den Klimawandel komplex sein und auch davon abhängen, wie sich Umweltpolitik und Klimaänderung auf die Nährstoffflüsse auswirken werden. Langfristig werden sich heimische kälteliebende Arten in höhere Breiten zurückziehen, während Organismen aus südlicheren Gebieten ihr Verbreitungsareal nach Norden ausdehnen. Globaler Schiffsverkehr und Aquakultur führen zu einem steten Einstrom von Organismen ferner Küstenlebensräume, die sich weiterhin im Wattenmeer etablieren. Schon zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden mit den Kriegsschiffen Arten eingeschleppt, die das Ökosystem des Wattenmeers veränderten. Ein Beispiel dafür ist die Austra­lische Seepocke, deren geringe Populationsstärke zunächst durch die kalten Winter immer wieder dezimiert wurde. Eine Reihe warmer Sommer und milder Winter bewirkte dann aber eine exponentielle Zunahme ihres Vorkommens.

Ähnliche Entwicklungen zeigen andere eingeschleppte Arten, die von den ansteigenden Temperaturen profitieren und mit einem anschließenden Massenvorkommen reagieren. Dazu gehören die Pazifische Auster und die Amerikanische Pantoffelschnecke. Bis zum Jahr 2010 wurden 66 exotische Arten durch menschliche Aktivitäten vor allem aus wärmeren Meeresgebieten eingeschleppt. Pro Jahr etablieren sich heute etwa ein bis zwei neue bodenlebene Arten dauerhaft im Wattenmeer. Das ist etwa das Dreifache der neuangesiedelten Arten im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Entsprechend den nordseeweiten Beobachtungen verschieben sich auch im Wattenmeer klimabedingt die Verbreitungsge­biete bestimmter Fischarten. So konnte eine starke Abnahme der kälteliebenden Aalmutter bei gleichzeitiger Zunahme des wärmeliebenden Wolfsbarsches nachgewiesen werden. Auch im Wattenmeer ist selten ausschließlich der Klimawandel für tiefgreifende Veränderungen des Fischbestandes ver­antwortlich. Die Kombination von Überfischung und Klima­veränderungen, die in der Nordsee zu einem alternativen Ökosystemzustand führt, wirkt sich bis ins Wattenmeer aus.

Offen ist nach wie vor die Frage, ob das Wattenmeer genügend Sediment aus der Nordsee importieren kann, um mit dem Anstieg des Meeresspiegels Schritt halten zu können.

Sollte das nicht der Fall sein, werden wichtige Lebensräume, wie Seegraswiesen im Gezeitenbereich und Salzmarschen, verschwinden. Sie stellen wichtige Lebensräume für zahlreiche Fischarten dar, so dass ihr Verschwinden das Ökosystem des Wattenmeeres grundlegend verändern würde.

Flussmündungen (Ästuare) wie die Tideelbe sind weltweit stark vom Menschen beeinflusst. Gleichzeitig sind sie von hohem ökologischen Wert für zahlreiche Pflanzen­ und Tierarten. Dieser wird durch Deichbau und Landgewinnung, durch Befestigung der Ufer mit Steinschüttungen, durch Vertiefungen von Fahrrin­nen und durch die Verbringung des Sediments sowie durch Belastung durch chemische Substanzen beeinträchtigt. Es ist zu erwarten, dass ein Temperaturanstieg sowohl die Algenblüte in der Elbe als auch das Sauerstoffdefizit verstärken wird. Im Hamburger Hafenbereich wird der künftige Temperaturanstieg die jetzige Sauerstoffproblematik weiterhin verstärken. Es ist zudem anzunehmen, dass die Zahl eingeschleppter Arten auch im Elbeästuar zunehmen wird. Eine Zunahme der Sauerstoff­mangelsituationen wird die Fischwanderungen beeinträchtigen.

Änderungen des Salzgehaltes können zur Verringerung von Laicharealen und Aufwuchsgebieten bestimmter Arten führen. Als Folge des Meeresspiegelanstiegs ist auch eine Verschiebung der oberen Brackwassergrenze stromaufwärts zu erwarten. Eine Zunahme der Anzahl mariner Fischarten stromauf und eine entsprechende Abnahme bei limnischen Fischarten stromab wären eine mögliche Folge. In welchem Maße sich der Klimawan­del zukünftig tatsächlich auf die Fischgemeinschaft der Elbe auswirken wird, ist auch weiterhin maßgeblich von menschli­chen Aktivitäten abhängig, welche die Anpassungsmöglichkeiten der Fische beeinträchtigen oder fördern können.

In der Ostsee wird die Erwärmung zu weniger Eisbedeckung im Winter und zu höheren Temperaturen im Sommer führen. Muscheln werden zurzeit durch das Eis vor dem Fraß durch die Eisente geschützt. Bei abnehmender Eisbedeckung können Eisenten mehr Muscheln fressen, so dass mit einem Rückgang der winterlichen Muschelbiomasse zu rechnen ist. Die Erwärmung der Ostsee kann eine frühere Algenblüte im Frühjahr sowie eine höhere Phytoplanktonproduktivi­tät und mehr Blaualgen im Sommer zur Folge haben.

Screenshot aus https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-662-55379-4_5

Screenshot aus https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-662-55379-4_5

In Verbindung mit dem Temperaturanstieg steigt auch die Gefahr, dass nicht nur toxische Blaualgen deutlich häufi­ger auftreten, sondern auch Krankheitserreger (pathogene Vibrionen). Diese Bakterien können bei immungeschwächten Personen mit offenen Wunden zum Tod führen.

Das generelle Muster einer nördlichen Verschiebung der geografischen Artverbreitung im Atlantik wird in der Ostsee durch den Salzgehalt eingeschränkt. Dieser begrenzt die Verbreitung mariner Arten. Der Lebensraum mariner Fisch­arten könnte sich bei abnehmendem Salzgehalt ostseeweit verkleinern, während Arten, die an Süßwasser angepasst sind, ein potenziell größeres Verbreitungsgebiet fänden. In dem Zeitraum von 1988 bis 1993 ähnelte der Zustand der Ostsee den Bedingungen, die Szenarien zur künftigen Klimaentwicklung als plausibel erscheinen lassen, mit geringen Salz-­ und Sauerstoffgehalten und relativ hohen Wassertemperaturen. Dies führte zu einem Umschlagen vom Dorsch­ zum Sprottenregime.

Die Veränderungen werden aber auch von vielen anderen Faktoren wie der Eutrophierung oder dem Fischereidruck abhängen. Unmittelbar verändern wird sich insbesondere der pH­-Wert, der aufgrund des Anstiegs der globalen CO2­-Konzen­tration der Luft deutlich abnehmen wird.