Wahrnehmung des Klimawandels in den verschiedenen sozialen Milieus in Deutschland
Seit Jahren werden Klimadebatten in der deutschen Öffentlichkeit intensiv geführt, das Thema ist in vielen Kontexten präsent. Auffällig ist, dass nur noch wenige den Klimawandel leugnen und sich immer mehr Menschen äußern, die die Zukunft ernster nehmen. Mehrheitlich macht sich die Gesellschaft Sorgen um die Folgen der Erderwärmung (siehe Reusswig/Schleer 2021).
Und dennoch werden klimapolitische Maßnahmen oft sehr kritisch gesehen. Einerseits besteht zwar grundsätzlich Offenheit für notwendige Veränderungen, andererseits aber auch ein Unbehagen gegenüber Wandlungsprozessen und ein Widerstreben gegenüber Lebensstiländerungen, einengenden Regeln und Verzicht.
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Vor diesem Hintergrund hat das Kompetenzzentrum Klima & soziale Gerechtigkeit der Friedrich-Ebert-Stiftung eine groß angelegte Bevölkerungsbefragung in Europa und Nordamerika in Auftrag gegeben: In insgesamt 19 Ländern hat das SINUS-Institut untersucht, welche Wahrnehmungen, Interessen und Befürchtungen die Menschen mit der sozial-ökologischen Transformation verbinden (siehe Detsch 2024 und Schleer/Wisniewski/Reusswig 2024).
In das Erhebungsdesign wurde der soziokulturelle Ansatz des Gesellschaftsmodells der Sinus-Milieus integriert. Durch die differenzierte Auswertung der Daten nach der Milieuzugehörigkeit der Befragten wurde die soziodemographische Analyse um Lebensstil und Wertekomponenten ergänzt.
Nachfolgend werden einige zentrale Ergebnisse für Deutschland vorgestellt (für eine ausführliche Darstellung aller Ergebnisse siehe Schleer/Wisniewski 2024). Zum Einstieg wird eine Kurzeinführung in das Modell der Sinus-Milieus gegeben.
Das Gesellschaftsmodell der Sinus-Milieus
Die Sinus-Milieus gruppieren Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähnlich sind (siehe Flaig und Barth 2018). Dabei handelt es sich um ein wissenschaftlich fundiertes Gesellschaftsmodell. Im Gegensatz zu einem induktiv-empiristischen Vorgehen, nach dem Lebensstiltypen mittels statistischer Ordnungsverfahren wie Cluster- und Korrespondenzanalysen generiert und nicht a priori bestimmt werden, erfolgte die Entwicklung der Sinus-Milieus auf Basis qualitativer Befunde (siehe Barth 2022).
Die Milieuperspektive ersetzt die Untersuchung soziodemographischer Merkmale nicht, sondern ergänzt und verfeinert sie, indem sie grundlegende Werte, die Lebensstil und Lebensziele bestimmen, ebenso berücksichtigt wie Alltagseinstellungen beispielsweise zu Familie, Arbeit, Freizeit und Konsum. „Ein Analyseansatz, der die Werthaltungen, Lebensauffassungen und Lebensweisen unterschiedlicher sozialer Milieus berücksichtigt, ermöglicht eine umfassendere und differenziertere Betrachtung der gesellschaftlichen Herausforderungen, die mit dem sozial-ökologischen Wandel einhergehen (etwa in den Bereichen Ernährung, Wohnen, Mobilität etc.)“ (Schleer/Wisniewski/Reusswig 2024, S. 2).
Abbildung 1 zeigt das aktuelle Gesellschaftsmodell der Sinus-Milieus. Die angegebenen Prozentangaben beziehen sich auf den Anteil des jeweiligen Milieus an der deutschen Wohnbevölkerung ab 14 Jahren. In Tabelle 1 sind die Sinus-Milieus hinsichtlich ihrer zentralen Wertorientierungen beschrieben.
Tabelle 1: Kurzcharakteristik der Sinus-Milieus
Abbildung 1: Das Gesellschaftsmodell der Sinus-Milieus 2024
Klimanavigator_Wahrnehmung_Sinus-Milieus_Abbildung 1
Wahrnehmung und Bewertung der Risiken durch den Klimawandel in den Sinus-Milieus
Der Klimawandel wird von der deutschen Bevölkerung mehrheitlich als ernstes Problem betrachtet. Rund zwei Drittel (65 Prozent) geben an, sie hätten Angst vor den Folgen des Klimawandels. Vor allem die Zunahme von extremen Wetterereignissen führt bei vielen Deutschen zu wachsenden Sorgen und Zukunftsängsten: 58 Prozent zählen Hitze, Dürren oder Starkregenereignisse zu den fünf Folgen des Klimawandels, die ihnen am meisten Angst machen. Mit 45 Prozent Nennungen steht das Artensterben in der Tier- und Pflanzenwelt an zweiter Stelle. Wassermangel im Alltag und kriegerische Auseinandersetzungen um Rohstoffe rangieren mit jeweils 41 Prozent auf den Plätzen 3 und 4. Am fünfthäufigsten wird die Zunahme von humanitären Krisen (37 Prozent) als besonders besorgniserregend wahrgenommen.
Allerdings ist das Problembewusstsein in den sozialen Milieus unterschiedlich gelagert (siehe Abbildung 2). So meinen 75 Prozent der Prekären, 74 Prozent der Adaptiv-Pragmatischen und 64 Prozent der Nostalgisch-Bürgerlichen, in Deutschland gebe es wichtigere Probleme als den Klimawandel. Im Gegensatz dazu sagen das 33 Prozent der Neo-Ökologischen und nur 15 Prozent der Postmateriellen (Durchschnitt: 50 Prozent).
Ähnlich verhält es sich mit der Aussage, dass vieles sehr übertrieben wird, wenn es um die Folgen des Klimawandels geht: Während nur acht Prozent der Postmateriellen und 20 Prozent der Neo-Ökologischen zustimmen, sind es bei den Nostalgisch-Bürgerlichen 50 Prozent, bei den Konsum-Hedonisten 52 Prozent, bei den Prekären 57 Prozent und bei den Angehörigen der Adaptiv-Pragmatischen Mitte 61 Prozent (Durchschnitt: 38 Prozent).
Abbildung 2: Problembewusstsein in den Sinus-Milieus
Klimanavigator_Wahrnehmung_Sinus-Milieus_Abbildung 2
Einstellung und Bereitschaft zu einem grundlegenden Wandel der Wirtschafts- und Lebensweisen in Deutschland
Die Ergebnisse der Repräsentativbefragung machen deutlich, dass das allgemeine Bewusstsein für die Notwendigkeit eines Umdenkens in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in weiten Teilen der Gesellschaft vorhanden ist: Auf die Frage, ob ein grundlegender Wandel der Wirtschafts- und Lebensweisen in Deutschland nötig sei, antworten gut drei Viertel der Befragten mit „ja, auf jeden Fall“ (31 Prozent) oder „eher ja“ (45 Prozent). Darüber hinaus sind die allermeisten Befragten (92 Prozent) der Auffassung, dass die Menschheit durch die Zerstörung der Natur ihre Lebensgrundlagen gefährdet. Und: Mehr als drei Viertel (78 Prozent) meinen, dass wir bereit sein sollten, zugunsten der Umwelt unseren Lebensstil zu ändern.
Die Studienergebnisse zeigen aber auch, dass das „Näherrücken“ der sozial-ökologischen Transformation zu verschiedenen Gefühlen, Vorbehalten und Gegenreaktionen führt, die in manchen sozialen Milieus sehr viel ausgeprägter als in anderen vorzufinden sind. Einige Beispiele:
• Im Nostalgisch-Bürgerlichen Milieu befürchten 91 Prozent, dass ein grundlegender Wandel der Wirtschafts- und Lebensweisen mit persönlich hohen Kosten verbunden ist (Durchschnitt: 77 Prozent).
• 84 Prozent der Prekären geben an, es fehle ihnen an finanziellen Möglichkeiten, etwas für den Klimaschutz zu tun (Durchschnitt: 59 Prozent).
• Weiterhin räumen 57 Prozent der Performer ein, selbst nur dann bereit zu sein, etwas für den Schutz der Umwelt zu tun, wenn dadurch der eigene Lebensstandard nicht beeinträchtigt wird (Durchschnitt: 52 Prozent).
• In der Adaptiv-Pragmatischen Mitte sind es 55 Prozent, die nicht daran glauben, mit dem eigenen Verhalten wesentlich zum Umweltschutz beitragen zu können (Durchschnitt: 37 Prozent).
• Darüber hinaus geben 44 Prozent der Konsum-Hedonisten an, es nicht einzusehen, das eigene Verhalten zu verändern, für etwas, das eventuell in der Zukunft passiert (Durchschnitt: 26 Prozent).
Zusammenfassung und Überblick: Vier Milieugruppen des sozial-ökologischen Wandels
Um genauer zu untersuchen, welche Bevölkerungsgruppen für klimapolitische Maßnahmen (besonders) empfänglich sind und welche Gruppen einem sozial-ökologischen Wandel kritisch-zurückhaltend bis ablehnend gegenüberstehen, wurden die Barrieren und Resonanzpotentiale der verschiedenen Milieus näher beleuchtet. Im Ergebnis lassen sich vier größere Milieu-Gruppen unterscheiden (siehe Abbildung 3): Primäre Treiber-Milieus, partielle Unterstützer-Milieus, verunsicherte und kritisch-zurückhaltende Milieus, distanzierte und den Wandel ablehnende Milieus (siehe Schleer/Wisniewski/Reusswig 2024):
Als primäre Treiber-Milieus können die nachhaltigkeitsorientierten Postmateriellen und die progressiven Neo-Ökologischen angesehen werden. Beide Milieus sind für die Risiken des Klimawandels besonders stark sensibilisiert. Der sozial-ökologische Wandel ist aus ihrer Sicht Grundvoraussetzung, um die Klimakrise zu bewältigen. Angesichts der drängenden Zeit fordern sie von der Politik, den Natur-, Umwelt- und Klimaschutz konsequenter voranzutreiben. Dabei spricht man sich ausdrücklich dafür aus, Kosten und Lasten der Transformation gerecht zu verteilen. Gleichzeitig zeigt man eine hohe Bereitschaft, den eigenen Lebensstil nachhaltiger zu gestalten. Das schließt teils inkonsequentes Verhalten nicht aus, aber die Angehörigen dieser Milieus räumen Inkonsistenzen auch selbstkritisch ein – und sehen sie als Motivation für weitere Verbesserungen.
Als partielles Unterstützer-Milieu können die pflichtbewussten Konservativ-Gehobenen betrachtet werden. Die Angehörigen dieser Lebenswelt haben eine offene Haltung gegenüber notwendigen Veränderungen, befürchten aber wirtschaftliche Schäden bei allzu ambitionierten Klimaschutzmaßnahmen. Darüber hinaus sind sie nur zögerlich dazu bereit, den eigenen teils exklusiven Lebensstil (privilegierte Wohnverhältnisse, Fernreisen etc.) zu ändern. Auch die fortschrittsoptimistischen Performer befürworten das Ziel der Klimaneutralität. Allerdings ist man in dieser Lebenswelt weniger überzeugt, dass es strenger und konsequenter Gesetze bedarf, um die Umwelt zu schützen. Vielmehr setzt man auf Technik und Fortschritt – und auf die Freiwilligkeit von klimapolitischen Maßnahmen. Das Lifestyle-affine Milieu der Expeditiven ist zwar stark individualistisch und anti-ideologisch eingestellt, trotzdem kann es als Unterstützer-Milieu angesehen werden - aufgrund seiner urbanen Weltoffenheit, seinem Interesse für grüne Trends (Vintage-Mode, Upcyceln etc.) und seiner generellen Wertschätzung für Nachhaltigkeit, die teilweise auch in politische Positionierungen und berufliche Orientierungen übersetzt wird. Im Alltag wird nachhaltiges Verhalten vor allem dort befürwortet, wo ökologisches Umdenken eine Verbesserung der Lebensqualität verspricht (z.B. nachhaltige Ernährung, umweltfreundliche Mobilität).
Zu den (stark) verunsicherten und kritisch-zurückhaltenden Milieus zählen die sicherheitsorientierte ältere Generation der Traditionellen, die stabilitätssuchenden Nostalgisch-Bürgerlichen und die Angehörigen der Adaptiv-Pragmatischen Mitte. In diesen Lebenswelten macht sich in zunehmendem Maße Verunsicherung breit, angesichts der wahrgenommenen Krisenverdichtung und der damit einhergehenden als diffus wahrgenommenen Veränderungsappelle. Dass man sich ganz generell an veränderte Zeiten anpassen muss, mag hier auf Zustimmung stoßen, aber das Bewusstsein für die Dringlichkeit von klimapolitischen Maßnahmen ist eher gering ausgeprägt. Zwar äußert man Sorge vor den Folgen des Klimawandels, viele sind aber auch der Meinung, dass es im eigenen Land wichtigere Probleme gibt (z.B. Altersarmut, sinkende Kaufkraft, gut bezahlte Arbeitsplätze). Da man glaubt, nachher schlechter dazustehen als zuvor, erzeugt hier die Aussicht auf eine „große Transformation“ wachsende Abstiegs- und Zukunftsängste. Von Politik und Staat ist man enttäuscht, sieht seine Interessen nicht (ausreichend) vertreten und empört sich über „wohlhabende Eliten“, die im Zuge der Klimakrise anderen vorgeben wollen, wie man künftig leben soll.
Während die Mitte-Milieus (Nostalgisch-Bürgerliche, Adaptiv-Pragmatische Mitte) und die Traditionellen für das Anliegen Klimaneutralität durchaus sensibilisiert sind, verläuft hier die Grenze zu jenen Lebenswelten, die der ökologischen Frage (stark) distanziert bis ablehnend gegenüberstehen: Im unterhaltungsorientierten Milieu der Konsum-Hedonisten sieht man die avisierte Klimaneutralität vor allem als Zumutung, die mit Verzicht, persönlichen Einschränkungen und einem Verlust am „Spaßhaben im Hier und Jetzt“ verbunden ist. Obwohl man Umweltbedrohungen nicht einfach ausblenden kann, macht man sich wenig Gedanken um Risiken und Konsequenzen. Auch die um Orientierung und Teilhabe bemühte Lebenswelt der Prekären betrachtet den Klimawandel als nachrangiges Problem. Viele leben in schwierigen Verhältnissen (z.B. Arbeitslosigkeit, gesundheitliche Beeinträchtigungen), fühlen sich „abgehängt“ und sozial benachteiligt. In Anbetracht dessen werden klimapolitische Maßnahmen als ungerecht erlebt und als zusätzliche Bedrohung der eigenen sozialen Lage angesehen. Mithin sieht man sich vom Staat im Stich gelassen und befürchtet, noch weiter den Anschluss zu verlieren.
Abbildung 3: Vier Milieugruppen des sozial-ökologischen Wandels
Klimanavigator_Wahrnehmung_Sinus-Milieus_Abbildung 3
- Barth B. 2022: Die Sinus-Milieus in der Gesellschaftswissenschaft. Leviathan, Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 49 (4), Seiten 470-479
- Detsch C. 2024: Des Klimas Gretchenfragen. Wie sich beim sozial-ökologischen Umbau gesellschaftliche Barrieren überwinden und skeptische Milieus an Bord holen lassen. Bonn
- Flaig B.B. und Barth B. 2024: Hoher Nutzwert und vielfältige Anwendung: Entstehung und Entfaltung des Informationssystems Sinus-Milieus. Barth B. et al. (Hg.): Praxis der Sinus-Milieus. Gegenwart und Zukunft eines modernen Gesellschafts- und Zielgruppenmodells. Seiten 3-25.
- Reusswig F. und Schleer C. 2021: Auswirkungen von Klimaschutzmaßnahmen auf Akteursgruppen im Hinblick auf Veto- und Aneignungspositionen. Literaturstudie zur gesellschaftlichen Resonanzfähigkeit von Klimapolitik im Auftrag der Wissenschaftsplattform Klimaschutz. Berlin und Potsdam
- Schleer C., Wisniewski N. und Reusswig F. 2024: Sozialökologische Transformation gestalten: Wie gesellschaftliche Barrieren überwunden und Resonanzpotenziale genutzt werden können. Abschlussbericht. Im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Heidelberg und Potsdam
- Schleer C. und Wisniewski N. 2024: Sozialökologische Transformation. SINUS-Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung. Länderbericht Deutschland. Heidelberg